James Montague hat Fußball-Ultras auf der ganzen Welt begleitet und ein Buch darüber geschrieben. Hier spricht er über Treffen mit faschistischen Ultra-Anführern und die Sonderstellung der deutschen Szene.
SPIEGEL: James Montague, was fasziniert Sie an der Ultra-Bewegung?
Montague: Mich hat es im Stadion immer schon dorthin gezogen, wo es laut, wild und gefährlich ist. In meiner Arbeit als Journalist habe ich festgestellt, dass es fast überall auf der Welt Ultras gibt, teilweise mit großem politischen Einfluss. In Ägypten habe ich viel Zeit mit den Ultras von Al Ahly aus Kairo verbracht, die 2011 bei der Revolution eine entscheidende Rolle gespielt haben. Ich wollte herausfinden, woher die Ultras kommen und wie sie zu einer der größten Jugendbewegungen der Welt wurden. Es ist ja paradox: Man weiß fast alles über Fußball, aber über die Ultras weiß man vergleichsweise wenig. Das liegt natürlich auch daran, dass es schwierig ist, mit ihnen zu sprechen. Sie hassen Journalisten genau so wie die Polizei.
SPIEGEL: Ihr neues Buch heißt "1312 - Among the Ultras”. Der Zahlencode steht für ACAB, All Cops are Bastards. Warum lehnen Ultras die Polizei pauschal ab?
Montague: Viele Ultras sehen sich als Außenseiter. Es gibt verschiedene Arten, Außenseiter zu sein, als Punk, als Heavy-Metal-Fan, als Graffiti-Künstler – oder eben als Ultra. Alle diese Bewegungen verachten Autoritäten. Dazu gehört die Polizei. Umgekehrt ist es genau so: Die Gesellschaft fühlt sich durch Subkulturen verängstigt. Ultras werden als etwas Gefährliches gesehen. Die Autoritäten wollen die Ultra-Kultur zerstören.
SPIEGEL: Zerstören? Ist das nicht sehr einseitig? Ultras fallen immer wieder durch Gewalt auf. In einigen Ländern sind sie offen faschistisch oder rechtsextrem, zum Beispiel in Italien oder Osteuropa.
Montague: Ich sage ja nicht, dass die Autoritäten die Ultras ohne Grund zerstören wollen. Beide Seiten tragen Schuld an den Spannungen. Ultras leben auch von ihrer Opposition zur Polizei. Aber die Polizei befeuert den Konflikt oft mit übertriebenen Strategien und mit Konfrontation.
SPIEGEL: Sie machen kein Geheimnis daraus, dass sie grundsätzlich mit der Ultra-Bewegung sympathisieren. Muss man ein Stück seiner journalistischen Distanz aufgeben, um mit Ultras ins Gespräch zu kommen?
Montague: Naja, man muss schon in der Lage sein, zu Menschen in dieser Szene eine Verbindung aufzubauen. Sonst hat man keine Chance. Ich habe es gemacht, wie ich es bei meiner Arbeit immer mache: Ich wollte so viel wie möglich herausfinden und verstehen. Es hat sicher geholfen, dass ich gut im Thema war und keine Klischee-Fragen gestellt habe. Aber man verliert deshalb nicht den Blick für die schlechten Seiten. Mir wurde nicht das Gehirn gewaschen.
SPIEGEL: Sie haben für Ihr Buch berüchtigte Persönlichkeiten aus dem Ultra-Kosmos getroffen, unter anderem Diabolik, den mittlerweile ermordeten Anführer von Lazio Roms extrem rechter Ultra-Gruppe "Irriducibili”. Wie war das?
Montague: Ziemlich unheimlich, das muss ich zugeben. Wir haben uns in seinem Büro im Hauptquartier der Gruppe getroffen. An der Wand hingen Mussolini-Bilder. Immer wieder kamen Mitarbeiter von ihm herein, flüsterten ihm Dinge ins Ohr oder überreichten ihm Zettel. Man muss bedenken, dass er angeblich in mafiöse Geschäfte verwickelt war und wegen Drogenhandels im Gefängnis saß. Wir haben zwei Stunden lang gesprochen. Es waren zwei der intensivsten Stunden meines Lebens.
SPIEGEL: Diabolik war bekennender Faschist, Rassist und Antisemit. Wie schreibt man über so jemanden, ohne seinen politischen Positionen eine Plattform zu geben?
Montague: Mir war klar, dass ich bei der Recherche auf Menschen treffe, deren Ansichten ich abstoßend finde. Aber wenn man ein Buch über die Geschichte der Ultras schreibt und mit Diabolik sprechen kann, muss man das machen. Als Journalist ist es nicht meine Aufgabe, meine Gesprächspartner zu belehren. Ich hätte den Raum dann wahrscheinlich auch nicht lebend verlassen. Aber natürlich muss man Menschen für ihre Ansichten verantwortlich machen. Der beste Weg dafür ist es, dass ich den Lesern so offen wie möglich schildere, was ich in der jeweiligen Situation denke. Es ist ein moralische Zwickmühle: Hinterfrage ich genug? Distanziere ich mich genug? Ich hoffe, ich treffe den richtigen Ton.
SPIEGEL: Sie stellen die These auf, dass die Ultras in Deutschland anders sind als im Rest der Welt: zugänglicher für Journalisten, oft antirassistisch und im Fall von Vereinen wie St. Pauli, Werder Bremen oder dem FC Bayern sogar explizit links. Woran liegt das?
Montague: Erstmal muss ich anmerken, dass auch deutsche Ultras nicht sagen: Toll, ein Journalist! Ein Beispiel: Ich war mit den Ultras aus Babelsberg bei einem Auswärtsspiel. Die Gruppe ist ebenfalls linksgerichtet und progressiv. Ich dachte, das müssten eigentlich meine Leute sein. Aber sie haben mich ausgegrenzt, als wäre ich ein Polizist oder ein Faschist. Bei der Rückfahrt mit dem Bus bin ich freiwillig ausgestiegen, irgendwo an einer Autobahn-Raststätte im Osten Deutschlands. Aber es stimmt schon, die Ultras in Deutschland sind demokratischer als in den meisten Ländern. Sie nehmen ihre Verantwortung als Staatsbürger wahr. Ihr Aktivismus ist beeindruckend.
SPIEGEL: Ihr Aktivismus?
Montague: Ja, Ultras sind Aktivisten. Sie haben jahrelang gegen die Montagsspiele protestiert, mit immer neuen Aktionen, und sie haben gewonnen. Montagsspiele werden wieder abgeschafft. Ihr Einsatz für den Erhalt der 50+1-Regel ist ein weiteres Beispiel. Zeitweise sah es so aus, als würde Martin Kind (Präsident von Hannover 96 und 50+1-Gegner, Anm. d. Red.) seinen Willen bekommen und das Ende der Regel einleiten. Aber Ultras und viele andere Fans haben dagegen gehalten. Und das, obwohl 50+1 eine hoch komplizierte Angelegenheit ist. Sich mit diesem Thema zu befassen, ist viel schwieriger, als einfach nur günstige Tickets zu fordern. Viele Ultras machen Kampagnen für Flüchtlinge, gegen Sexismus, Homophobie oder die AfD. Die Bayern-Ultras stellen ihren Verein wegen der Zusammenarbeit mit Katar zur Rede. Das finde ich bemerkenswert. Viele Leute denken bei Ultras nur an Schläger mit Kapuzen. Die gibt es in Deutschland zwar auch, aber man sieht auch eine ganz andere Seite der Ultra-Kultur.
SPIEGEL: Deutsche Ultras standen zuletzt in der Kritik wegen der Beleidigungen gegen Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp.
Montague: Ja, viele Medien haben die Ultras verteufelt – ohne zu hinterfragen, woher die Ablehnung gegen Hoffenheim oder auch gegen RB Leipzig kommt. Das vertieft das Misstrauen der Ultras den Medien gegenüber. Dabei würde man die Ultras vermissen, wenn sie nicht mehr da wären.
SPIEGEL: In der Coronakrise engagieren sich viele Ultras, sammeln Geld und Nahrungsmittel, danken Ärzten und Helfern mit Plakaten oder helfen – wie in Bergamo – beim Bau eines Krankenhauses. Viele Beobachter sind über dieses soziale Engagement überrascht. Sie auch?
Montague: Überhaupt nicht. Ultras waren immer schon wichtige Akteure in Krisensituationen. Egal ob bei Erdbeben, Überschwemmungen, Waldbränden oder in der aktuellen Situation – sie gehören oft zu den Ersten, die freiwillig helfen. Die Überraschung der Öffentlichkeit zeigt eher, dass die Ultras Recht haben mit ihrem Eindruck, immer in einem schlechten Licht dargestellt zu werden.
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