Am vorletzten Spieltag der vergangenen Saison hat der Hamburger SV den Aufstieg verspielt. Diesmal könnte er etwas noch Wichtigeres verlieren: seine Fans.
Am Sonntag trifft der Hamburger SV auf den 1. FC Heidenheim. Es ist der vorletzte Spieltag der Saison und ein kleines Finale um den Aufstieg in die erste Liga. Zwei Aufstiegsplätze sind noch zu vergeben. Der Tabellenführer Arminia Bielefeld hat so viele Punkte Vorsprung, dass er nicht mehr einzuholen ist. Auf dem zweiten Platz steht der VfB Stuttgart mit 55 Punkten, dahinter kämpfen Hamburg (54 Punkte) und Heidenheim (52 Punkte). Der Sieger des Duells hat es selbst in der Hand, sich zumindest den Relegationsplatz zu sichern, also Platz drei. In zwei weiteren Spielen gegen den Drittletzten der Ersten Liga entscheidet sich dann, wer in der nächsten Saison eine Klasse höher mitspielen darf.
Diese Ausgangslange wird bei den Fans des HSV und Heidenheim unterschiedlich gedeutet. In Hamburg ist die Angst davor, erneut alles zu verspielen, was in dieser Saison mühsam aufgebaut wurde, größer als die Zuversicht auf die Rückkehr in die Bundesliga. Der Verlauf der Rückrunde hat das Trauma aus der letzten Saison reaktiviert, als der HSV unter dem großen Druck, aufsteigen zu wollen, zerbrach. Damals wie heute fiel die Vorentscheidung am vorletzten Spieltag. Dann verlor Hamburg mit 1:4 gegen den direkten Konkurrenten Paderborn. Die Fans fragen sich: Warum sollte es diesmal anders laufen?
Ihr Blick auf den Verein und die Leistungen der Mannschaft hat sich verändert. Das hat auch etwas mit Corona zu tun. Seitdem die Spiele im Stadion ohne Zuschauer stattfinden, ist das Erlebnis der Fans ein anderes als zuvor. Der große Rausch, den ein Fußballspiel in der Gemeinschaft auslösen kann, der sich in Anfeuerungen bis zum Schluss äußert oder in Unmut durch Pfeifen, bleibt in Zeiten von Kontaktbeschränkungen fast gänzlich aus. Die langen Anfahrten zu den Auswärtsspielen, das gemeinsame Bier nach dem Spiel und die Unterhaltung am Wurststand vor der Tribüne gibt es nicht mehr. Das sorgt für mehr Distanz und weniger Emotionen; die Einschätzungen und Meinungen sind nüchterner, realistischer als sonst. Wegen des eng getakteten Terminplans bleibt zwischen den Spielen auch nicht viel Zeit, um das Gesehene zu verarbeiten und Vorfreude auf die nächsten 90 Minuten zu entwickeln. Das Gegenteil ist der Fall.
Was die Fans aufgrund der äußeren Umstände zu sehen bekommen, ist nicht nur Fußball ohne großes Trara, sondern auch ein ungeschöntes Abbild der vergangenen Jahre. Immer dann, wenn die Mannschaft in wichtigen Spielen abliefern muss, versagen ihr die Nerven. Unabhängig davon, wer an der Seitenlinie ihr Trainer ist oder im Vorstand das Sagen hat. Jetzt gibt es nichts mehr, was davon ablenkt.
Der HSV hat in der letzten Dekade alles ausgetauscht, was man austauschen kann. Nahezu jeder Spieler- und Trainertyp, von jung bis erfahren, hat sich an der Aufgabe in Hamburg versuchen dürfen. Nachhaltig erfolgreich war keiner von ihnen. Und selbst der aktuelle Chefcoach Dieter Hecking stößt kurz vor dem Ziel an seine Grenzen, in seinen öffentlichen Auftritten wirkt er zunehmend schmallippiger. So langsam gehen mal wieder die Erklärungen aus.
In den einschlägigen Foren, Blogs und Social-Media-Kanälen ist die Haltung der Fans deutlich abzulesen. Hoffnung ist für die meisten kein Antrieb mehr, sich die Spiele des HSV anzusehen. Viele erwarten längst, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten werden – vermutlich zum Selbstschutz, um nach den vielen Enttäuschungen, die im Rausch jeder Saison ausgeblendet wurden, nicht schon wieder verletzt zu werden.
Viele wünschen ihrem Verein den Aufstieg nicht mehr, denn der Ausblick in die Zukunft wäre auch dann düster: Eine Mannschaft, die gegen den Tabellenletzten der Liga, Dresden, nur mit Mühe 1:0 gewinnen kann und sich gegen das schwächste Team der Rückrunde, Osnabrück, nicht einmal echte Torchancen erarbeiten kann und über ein Unentschieden nicht hinauskommt – eine solche Mannschaft habe in der Ersten Liga ohnehin nichts zu suchen, glauben mittlerweile viele.
Dieser resignativen Stimmung etwas entgegenzusetzen und die Bindung zu den Fans nicht zu verlieren, ist für den HSV am Sonntag mindestens genauso wichtig wie der Aufstieg selbst. Allerdings wird dafür mehr nötig sein als ein Sieg in Heidenheim. Der Hamburger SV braucht neue Antworten auf die Fragen, wer der Verein ist, wer er sein möchte und wo er hingehört. Den Beweis, dass er für das Saisonziel alles gegeben hat, was möglich war, ist er nach Ansicht der Fans schuldig geblieben. Ihre Geduld stößt allmählich an ihre Grenzen.
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