Der Fußballfan und Satiriker Dieter Nuhr hat in seinem Jahresrückblick („Nuhr im Ersten“) mit einem grässlichen Irrtum aufgeräumt und die Menschen dringend zur Rückkehr in die Realität aufgefordert: „Greta ist nicht der Messias. Das ist Jürgen Klopp. Ich bin der festen Überzeugung, dieser Mann könnte auch den Klimawandel aufhalten – aber er hat noch Vertrag in Liverpool.“
Das ist eine Katastrophe, vor allem für die Bundesliga. Denn auch die ist vom Wandel massiv bedroht, es herrscht plötzlich ein Klima der lähmenden Ungewissheit. Wer wird Deutscher Meister?
Keiner weiß es.
Dabei haben wir jetzt schon Weihnachten. Der deutsche Fan ist diese unerträgliche Warterei nicht gewohnt, er will nicht zappeln bis Mai, und jahrzehntelang wusste er spätestens im Dezember Bescheid. Hoch dotierte Sachverständige trafen sich immer zur Halbzeitanalyse, warfen einen kurzen Blick auf die Tabelle und gaben bekannt: „Die Bayern sind Meister. Frohe Feiertage.“
Favre - Meistermacher oder Sargnagel des BVB?
Heute? Der Ex-Europameister und TV-Moderator Thomas Helmer favorisiert zwar immer noch die Bayern („Knapp vor Leipzig. Dortmund wird Dritter“), aber das sagt er nur aus panischer Angst, weil Uli Hoeneß sonst nicht mehr in seinen „Doppelpass“ kommt. In Wahrheit ist die Meisterfrage diesmal eine weitergehende Frage. Was ist mit Gladbach? Oder Schalke? Kriegt Leverkusen die zweite Luft und ist am Ende der lachende Sechste?
Die Experten sind erstmals ahnungslos. Sie wissen noch nicht einmal, ob Julian Nagelsmann Trainer der Saison wird. Dabei wussten sie früher alles. In keinem Lehrbuch fehlt der legendäre Dialog zwischen ARD-Altmeister Rudi Michel und seinem Sachverständigen Udo Lattek anlässlich eines Länderspiels. „Es regnet ja wahnsinnig, was, Udo?“, sagte Michel. Und Lattek sprach die Wahrheit schonungslos aus: „Ja, ja. Es regnet. Wie im Baskenland. Das weiß ich noch aus meiner Zeit in Spanien.“
Jetzt stochern die Experten mit der Stange im Nebel und fragen sich beispielsweise, ob Lucien Favre der kommende Meistermacher oder der Sargnagel von Borussia Dortmund ist. Seit seinem jüngsten Verzweiflungsschrei beim Flop in Hoffenheim („Wir schießen, wenn wir flanken sollen!“) gilt der Schweizer wieder als Nervenbündel – dabei wiesen Statistiker noch vor zwei Wochen mittels beeindruckender Zahlen nach, dass er mit 2,14 Punkten pro Spiel den besten Schnitt aller BVB-Trainer hat. Die früheren Koryphäen Hitzfeld, Klopp, Tuchel oder Multhaup stehen im Vergleich lachhaft da und sollten sich schämen.
Wird Dortmund also doch Meister? Viele wetten dagegen und vertrauen eher Winston Churchill („Ich glaube nur an Statistiken, die ich selbst gefälscht habe“).
Kann von euch einer Trainer? „Ja“, rief Klinsmann
Doch wetten ist riskant. Man kann Haus und Hof verlieren in dieser Saison, denn es geschehen unfassbare Dinge. Hertha BSC feuerte neulich Ante Covic, suchte hektisch einen neuen Trainer, aber Niko Kovac wollte sich nach seinem Bayern-Aus nicht gleich wieder die Finger verbrennen – also warf in der Not einer im Aufsichtsrat die Frage in den Raum: Kann von euch einer Trainer?
„Ja“, rief Jürgen Klinsmann. Und nach fünf Spielen hat der Altbundestrainer jetzt vermutlich den besten Punkteschnitt aller Hertha-Trainer, und das kann alles noch viel besser werden, falls er sich nach Torwarttrainer Andy Köpke vom DFB demnächst auch noch seinen früheren Co-Trainer Jogi Löw ausleiht.
Sie lachen? Die Saison ist verrückt. Hätte einer gedacht, dass Robert Lewandowski den 40-Tore-Rekord von Gerd Müller angreift, und das mit nur einer gesunden Leiste? Dass Werder Bremen in der Krise auf einen 41-jährigen Weißhaarigen zurückgreifen muss, der behauptet, Claudio Pizarro zu sein? Dass Schalke-Boss Clemens Tönnies in einer Festrede Dinge sagt, die er besser nicht gesagt hätte? Dass Uli Hoeneß zurücktritt? Oder, noch verrückter: Dass Hansi Flick Bayern-Trainer wird?
Viele wussten gar nicht mehr, dass es Flick noch gibt. Auffällig geworden war er letztmals als Co-Trainer des DFB bei der EM 2012 in Polen, als er in einer Pressekonferenz als Strategie gegen die Freistöße von Ronaldo verkündete: „Stahlhelm auf und groß machen.“ Die Polen dachten im ersten Schreck, der DFB wolle noch mal in Kübelwägen aus alten Wehrmachtsbeständen angreifen.
Seither hält Flick sich zurück. Überhaupt spricht von den neuen Trainern der Bundesliga keiner in der dritten Person über sich, von David Wagner in Schalke bis Urs Fischer, der alles hat, nur keine Berliner Schnauze. In Gladbach hätte Marco Rose als Shootingstar zwar auf den Putz hauen können, aber man darf sich dann natürlich nicht in der Europa League gegen unaussprechliche Türken blamieren oder gar 0:4 gegen Wolfsberg. Letzteres geht gar nicht, denn der Wiener Max Merkel hat in seiner Zeit als Bundesliga-Meistermacher über seine Landsleute einmal verraten: „Der Österreicher glaubt mit 18, er sei Pelé. Mit 20 glaubt er, er sei Beckenbauer. Und mit 24 merkt er, dass er Österreicher ist.“
Einen Merkel mit seiner großen Goschn hat die Bundesliga zur Zeit nicht, ja nicht einmal eine Imke Wübbenhorst, die als Trainerin der Oberligamänner des BV Cloppenburg neulich von der Akademie für Fußballkultur für den Spruch des Jahres gekrönt wurde: „Ich bin Profi. Ich stelle nach Schwanzlänge auf.“ Die Stars der Hinrunde waren also nicht die Trainer, so wenig wie die Experten.
Die Stars sind plötzlich die Schiedsrichter.
Sie blühen auf, sie genießen die große Bühne, sie sind die neuen Könige des Rampenlichts. Der Videobeweis macht sie zu VIPs, zu very important persons, und sie zelebrieren ihn. Nach nahezu jedem Tor sieht Fußballdeutschland sie mittlerweile in Großaufnahme, und die auf dem Platz greifen sich dann ans Ohr, reden mit denen im Kölner Keller und zitieren die Bibel: „Suchet, so werdet ihr finden“ (Lukas 11, Vers 9).
Bei Marco Reus haben sie so einmal eine strafbare Hacke entdeckt, die sich ins Abseits verirrt hatte. „Wie viele Millimeter?“, fragte der BVB-Pechvogel hinterher. Auch Uefa-Präsident Aleksander Ceferin („Wenn man eine lange Nase hat, ist man heutzutage im Abseits“) ist besorgt, dass da ein paar pflichtbesessene Perfektionisten den Videobeweis, diese größte Errungenschaft der Menschheit seit der Erfindung des tiefen Tellers, zugrunde richten.
Gründlich ging es auch noch mal am Samstag in Leipzig zu. Florian Niederlechner schoss das 1:0 für Augsburg, und sogar die Einäugigen unter den Sky-Zuschauern wussten nach fünf Sekunden, wie regulär dieses Tor war. Doch zwei Minuten lang ließen die Video-VIPs den armen Kerl und den Rest der Welt schmoren. Hinterher kapitulierte Niederlechner: „Ich verstehe den Schmarrn nicht mehr.“
Sogar an der kalibrierten Linie macht sich jetzt schon dieses Klima der lähmenden Ungewissheit breit. Aber Jürgen Klopp kann nicht helfen, er hat Vertrag.
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